Genetische Erkrankungen – Was kann mit welchem Verfahren und mit welcher Genauigkeit erfasst werden?

Von den 700.000 jährlich in Deutschland ausgetragenen Schwangerschaften sind 3% der Kinder (= 21.000 pro Jahr) von einer körperlichen Fehlbildung betroffen. Dagegen findet sich in nur 0,4 % der Schwangerschaften (=2800 Fälle pro Jahr) ein genetisch krankes Kind. Dies bedeutet zunächst, daß die in unserer Gesellschaft gefühlte und weit verbreitete Angst, das ungeborenene Kind könne genetisch krank sein, beim Abgleich mit der Realität ein weitaus selteneres Ereignis darstellt als gedacht: Eine genetische Erkrankung des ungeborenen Kindes (Fet, Fetus) ist damit annähernd 10 x seltener als die Wahrscheinlichkeit für den Feten, einen Herzfehler oder eine andere körperliche Fehlbildung zu tragen.

Immerhin jede 5te körperliche Fehlbildung (= grob 4000 Fälle/Jahr) ist derart schwer, daß sie – vorgebutlich nicht erkannt und damit suboptimal gemanagt – zu einem nachgeburtlichen Versterben des Kindes führen kann. Dies ist der rechtfertigende Grund dafür, daß das Regelwerk der Mutterschaftsrichtlinien ein Ultraschall-Screening als Angebot an alle Schwangeren vorsieht. Ein vorgeburtliche Ultraschalluntersuchung, verantwortlich durchgeführt, bedeutet allerdings immer auch eine indirekte Suche nach genetischen Merkmalen, weil ca. 10% der körperlichen Fehlbildungen auf Grundlage einer genetischen Erkrankung entstehen und etwa 80% der genetisch kranken Kinder körperliche, im Ultraschall nachweisbare Fehlbildungen aufweisen.

Wenn wir uns fragen, wovon wir bei genetisch kranken Kindern überhaupt sprechen, so sind die Zahlen (Vergl. Eurocat-Studie) an dieser Stelle wie folgt: Von den in Deutschland 2800 Kindern jährlich mit genetischen Erkrankungen haben ca. 50% (=1400 pro Jahr) das Down-Syndrom (Trisomie 21), ca. 20% (=560 pro Jahr) eine Trisomie 18 oder Trisomie 13, ca. 10% (=280 pro Jahr) eine Störung der Anzahl der Geschlechtschromosomen (X,Y, z.B. Turner-Syndrom, Klinefelter-Syndrom) und die verbleibenden ca. 20% (=560 pro Jahr) eine für sich allein betrachtet seltene genetische Erkrankungen, die aber in der Summe ihres Auftretens (es gibt ca. 8000 beschriebene seltenen genetische Erkrankungen) sich zu einem Anteil von 20% aufaddieren. 

Welche dieser Erkrankungen haben eine praktische Relevanz für die individuell hiermit konfrontierten Schwangeren und die Gesellschaft?

Eine praktische Relevanz haben diejenigen Erkrankungen, welche charakterisiert sind durch die Kombination der beiden Merkmale "lange nachgeburtliche Lebenserwartung" und "mässiggradige bis schwere Beeinträchtigung der körperlichen und/oder geistigen Entwicklung". Dies betrifft die Mehrzahl der Feten mit Down-Syndrom (vergl. oben, 50% aller genetisch kranken Feten) und die Mehrzahl der Feten mit seltenen genetischen Erkrankungen (vergl. oben, 20% aller genetisch kranken Feten). Feten mit einer Trisomie 18/13 spielen nachgeburtlich keine Rolle, weil sie, sofern sie nicht natürlicherweise aufgrund der Schwere der genetischen Fehlregulation und der damit verbundenen körperlichen Fehlbildungen im Mutterleib versterben (dies trifft auf 90% dieser Feten zu), dies in den ersten Wochen nach der Geburt bis maximal hin zu 1 Jahr geschieht. Auch Menschen mit einer Störung der X/Y-Chromosomen spielen deswegen eine allenfalls untergeordnete Rolle in der individuellen wie gesellschaftlichen Wahrnehmung, weil diese mehrheitlich, von einer reduzierten Zeugungsfähigkeit abgesehen, ein unauffälliges psychosoziales Entwicklungspotential aufweisen. 

An dieser Stelle sei betont: Diese Einschätzung ist nicht als persönliche Wertung, schon gar nicht im Einzelfall zu verstehen. Sie beschreibt lediglich soziale Phänomene. Welche Bedeutung eine vorgeburtlich nachgewiesene genetische Erkrankung des Feten für uns individuell und persönlich hat, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Entscheidend im konkreten und rechtlichen Sinne ist immer die Schwangere, welche das genetisch und/oder körperlich erkrankte Kind erwartet.

Bei der Frage nach den medizinischen Untersuchungsverfahren muß prinzipiell unterschieden werden zwischen Diagnoseverfahren (Engl: diagnostic test) und Suchtests (Engl.: screening test):

Diagnoseverfahren setzen voraus, daß eine fetale Zellprobe gewonnen wird (invasive Diagnostik). Als Methoden stehen dafür bereit: Die Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung), die Chorionzottenbiopsie (Placentaprobe) und die Nabelschnurblutentnahme. Hierdurch liegt das Erbmaterial des Kindes (Genom) vollumfänglich vor und erlaubt alle Formen einer genetischen Bestimmung (Zytogenetische Analyse: Anzahl der Chromosomen und Form der Chromosomen bis zu einer lichtoptischen unteren Auflösungsgrenze von ca. 5 Megabasen, molekulargenetische Analyse: Analyse der Erbinformation unterhalb der lichtoptischen Auflösungsgrenze bis hin zur Einzelgenanalyse auf DNA-Basenpaarebene). Das Ergebnis der Analyse stellt eine medizinisch verläßliche Diagnose dar (= Goldstandard, maximal mögliche Information). Nur von einer derartigen verläßlichen Diagnose kann eine medizinische Konsequenz abgeleitet werden. Genaue Informationen zu den Risiken der Methoden finden Sie hier. Im Kern wird neuen Studien zufolge (Akolekar, 2015) das eingriffsbezogene Risiko für die Amniozentese mit 1:1000 und für die Chorionzottenbiopsie mit 1:500 angegeben. Damit liegen diese tatsächlich um den Faktor 10 niedriger als in älteren Studien angegeben und im Internet FÄLSCHLICH verbreitet. In Expertenhand wird die Chorionzottenbiopsie (engl. CVS) als noch weitaus sicherer als die Amniozentese erlebt. Grund hierfür dürfte sein, daß bei der CVS im Gegensatz zur Amniozentese die den Feten umgebende und schützende Eihaut NICHT perforiert wird, so daß eingriffsbezogene Komplikationen bei der CVS in meiner eigenen beruflichen Erfahrung eine extreme Rarität darstellen.

Suchtests sind dagegen indirekte Untersuchungsverfahren, deren Ergebnisse in Form von Wahrscheinlichkeiten (quantitative Darstellung) oder dichotom (auffällig-unauffällig, +/-, oberhalb-unterhalb eines Grenzwertes gelegen) ein ungeborenes Kind als zu einer kranken oder gesunden Gruppe gehörig nach gewissen Regeln der Logik einstuft. Die Güte der Verfahren kann dadurch beschrieben werden, mit welcher Präzision der Test tatsächlich kranke Kinder in die Gruppe der Testauffälligen sortiert und umgekehrt. Damit dienen diese Tests als Suchverfahren, um der ratsuchenden Schwangeren über ihr Gefühl hinaus rationale Anhaltspunkte an die Hand zu geben, um im Endeffekt die Frage zu beantworten: "Macht es bei mir Sinn eine invasive Diagnostik in Anspruch zu nehmen oder gibt es rational abgeleitete Anhaltspunkte dafür, auf eine weiterführende Diagnostik zu verzichten, sofern ich bereit bin, ein nach der Testdurchführung mit unauffälligem Ergebnis deutlich geringeres Restrisiko für genetische Erkrankungen zu tragen?" Ein auffälliges Ergebnis im Suchtest muß immer durch ein invasives Diagnoseverfahren bestätigt bzw. ausgeschlossen werden.

Bei den Suchtests kommen zwei Verfahren zum Einsatz, welche in unterschiedlicher Art die jährlich auftretenden 2800 Fälle genetischer Erkrankungen analysieren:

1. Der kombinierte NT-Test:

Dieses Verfahren ist in Expertenhand das Verfahren der ersten Wahl. Es handelt sich vom Prinzip her um ein kombiniertes Ultraschall- und Laborverfahren: Eine frühe fetale Feindiagnostik (sonographischer Fehlbildungsausschluß unter Einschluß aller NT-Parameter) wird verbunden mit der Untersuchung von biochemischen Substanzen im mütterlichen Blut, welche eigentlich aus der Plazenta und damit vom Kind stammen. Weil der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Ultraschalldiagnostik liegt, werden beim kombinierten NT-Test nicht nur genetisch kranke, sondern auch körperlich kranke Kinder (21000 pro Jahr, hier mit einer Empfindlichkeit von 60-80%) erfasst, und dies zum frühesten medizinisch sinnvollen Zeitpunkt unmittelbar nach Abschluß der Organanlage. Damit ist der NT-Test das früheste und am breitesten aufgestellte Verfahren in der Suche nach (positiv formuliert) fetaler Gesundheit. Dies macht den NT-Test zu einem in seiner Aussage so mächtigen Tool. Auf der genetischen Ebene beträgt sie Empfindlichkeit (Sensitivität) in der Entdeckung der Trisomie 21 (Down-Syndrom) 95%. Sie liegt bei der Trisomie 18,13 sowie bei den XY-Störungen in Verbindung mit der Feindiagnostik, insbesondere am Herzen (frühe fetale Echocardiographie) ebenfalls in dieser Höhe. Selbst bei der verbleibenden Gruppe der seltenen Störungen ist der kombinierte NT-Test in einem im Einzelfall unterschiedlichen Ausmaß empfindlich. 

2. Nichtinvasive Pränataltests (NIPT):

Vor der Geburt stellt die Plazenta das größte kindliche Organ dar. Bei der Plazenta handelt es sich – entgegen einer auch unter Ärzten weitverbreiteten Annahme – damit nicht um ein mütterlich-kindliches Mischorgan, sondern um 100% kindliches Gewebe. Die Bedeutung des kindlichen Organs "Plazenta" läßt sich daran ermessen, daß der Fetus immerhin 50 % seines Blutes im ersten Schwangerschaftsdrittel und immer noch mit 33% am Ende der Schwangerschaft 1/3 seines Blutes über die Nabelschnur in die Placenta pumpt. An der Haftoberfläche der Plazenta hin zur (mütterlichen) Gebärmutterwand gehen fortwährend Plazentazellen (sog. Trophoblastzellen) unter. Diese entleeren ihre Zellinhaltsstoffe einschließlich der aus den Zellkernen stammenden fetalen DNA in das müttlerliche Blutsystem. Sie werden so abtransportiert und andernorts im mütterlichen Organismus abgebaut. NIPT-Verfahren messen den Anteil der im mütterlichen Blut zirkulierenden fetalen DNA-Schnipsel nach ihrem Herkunftsort (Chromosom) im Genom. Die durch eine Störung der fetalen Chromosomenzahl verursachte Über- oder Unterrepräsentationen gewisser DNA-Schnipselim mütterlichen Blut  läßt so mit einer relativ hohen Genauigkeit (s. weiter unten) erfassen und damit auf das tatsächliche Vorliegen einer fetalen Trisomie oder Monosomie beim Feten rückschließen. Die kommerziellen Anbieter bieten dieses Verfahren für die Trisomie 21, 18, 13 und XY-Chromosomen an. Damit werden die ihrer Häufigkeit nach 20% seltenen genetischen Störungen von der NIPT prinzipiell NICHT betrachtet bzw. erfasst. Seine Stärke hat NIPT bei der freien Trisomie 21 (Down-Syndrom): Hier liegt die Empfindlichkeit der Methode in der Entdeckungsrate (Sensitivität) bei 99% (im Vergleich zum NT-Test mit 95%) und in der richtigen Zuordnung gesunder Kinder in die Gruppe "unauffälliger Test" (Spezifität) ebenfalls bei 99% (im Vergleich zum NT-Test mit 96%). Die Genauigkeit der Bestimmung von NIPT ist bei der Trisomie 18,13 und den XY-Störungen interessanterweise NICHT höher als beim kombinierten NT-Test: Damit stellt NIPT in der praktischen Pränatalmedizin – entgegen der Darstellung seiner Anbieter – ein hochselektives, primär auf die Entdeckung des Down-Syndroms gerichtetes Testverfahren dar. Dies spiegelt sich entsprechend in den aktuellen Empfehlungen nationaler und internationaler Fachgesellschaften wider.

 

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