Genetische Ursachen geistiger Behinderung

by admin ~ Dezember 26th, 2012. Filed under: Frauenheilkunde, Genetik, Pädiatrie, Pränatalmedizin.

Eine sehr häufig gestellte Frage werdender Eltern ist, ob die Möglichkeit besteht, durch die vorgeburtliche Ultraschalluntersuchung eine geistige Behinderung auszuschließen. Dies ist naturgemäß nicht möglich, weil ein körperlich unauffälliger Befund nicht zwangsläufig mit einer normalen geistigen Entwicklung vergesellschaftet ist: Zwar sind in der Tat die überwiegende Mehrzahl der im Ultraschall anatomisch unauffälligen Kinder mit einem normalen intellektuellen Entwicklungspotential versehen; aber immerhin läßt  sich in 0,5% der sogenannten Normal-Bevölkerung in westlichen Ländern die Entwicklung einer geistigen Behinderung beobachten (sogenannte "nicht-syndromale Formen einer geistigen Behinderung").

Allerdings gibt es gewisse Formen körperlicher Fehlbildungs-Syndrome, welche a) vorgeburtlich hinreichend präzise diagnostiziert werden können und b) typischerweise mit einer mentalen Retardierung einher gehen. Wenn diese Störungen vorgeburtlich nachgewiesen werden, sollte daher auch auf die bestehende Verbindung mit einer geistigen Behinderung beraten werden (die Fälle sind eine Untergruppe der sogenannten "syndromalen Formen einer geistigen Behinderung").

Es bleibt: Die 0,5% Kinder mit unterschiedlichen nicht-syndromalen Formen geistiger Behinderung sind klinisch nicht unterscheidbar und bisher pränatal nicht diagnostizierbar. Neben Infektionen und perinataler Asphyxie wird davon ausgegangen, dass die meisten Formen geistiger Behinderung genetische Ursachen haben.

Es zeigte sich aber, dass diese genetischen Ursachen bei etwa 60 % der Patienten bislang nicht aufzudecken waren. Wird eine genetische Ursache einer geistigen Behinderung nachgewiesen, so hat dies für den Patienten und seine Familie Vorteile: Die Prognose kann besser gestellt und damit u. U. unnötige invasive Diagnostik vermieden werden. Auch lässt sich das Wiederholungsrisiko richtig einschätzen.

Die Tatsache, dass geistige Behinderung nicht selten sporadisch ohne erkennbare familiäre Faktoren auftritt, hat die Hypothese begründet, dass ein großer Teil dieser Fälle durch spontane Mutationen ausgelöst sind. Da bei den meisten Patienten ein klinischer Phänotyp fehlt, erschien es einer Arbeitsgruppe um Joep de Ligt aus Nijmegen, Niederlande notwendig, bei 100 Patienten mit geistiger Behinderung und unklarer Diagnose sowie deren Eltern die Gesamtheit der codierenden Teile des Genoms (sogenanntes Exom) zu untersuchen (de Ligt J et al. Diagnostic exome sequencing in persons with severe intellectual disability. N Engl J Med 2012 Oct 3).

Bei allen Patienten waren zuvor die klassischen Untersuchungen mit gezielten Gentests und genomischem Profiling neben eingehender klinischer Untersuchung durch einen erfahrenen Genetiker erfolglos angewendet worden. Die Relevanz jeder einzelnen Mutation wurde aufgrund von sieben verschiedenen Faktoren überprüft. Dazu gehörten unter anderem die Auswirkung der Mutation auf das Codon, der funktionelle Effekt auf den Aminosäurelevel und das Gehirnexpressionsmuster. Die Arbeitsgruppe hatte bereits bei 765 Patienten mit geistiger Behinderung eine Reihe von Kandidatengenen ermittelt.

Die Wissenschaftler konnte belegen, dass bei 53 der 100 Patienten eine spontane Mutation vorlag. Zusammengenommen war bei 16 von 100 Patienten durch diese Vorgehensweise eine Diagnosestellung möglich. In zwei Fällen hatte die Diagnose unmittelbare therapeutische Auswirkungen für den Patienten: Bei einem wurde eine ketogene Diät empfohlen, bei einem weiteren führte die Vermeidung von Natriumkanal-blockierenden Medikamenten zu einer besseren Anfallskontrolle.

Diese verbesserte Diagnosestellung bedeutet aus kinderärztlicher wie auch aus pränatalmedizinischer Sicht einen Fortschritt. So schreibt der Pädiater Dr. Hartmut Koch hierzu in der Zeitschrift "pädiatrie hautnah" (pädiatrie hautnah 2012; 24 (6): 394): "Eine diagnostische Ausbeute von 16 % bei Patienten mit bislang nicht einzuordnender Ursache einer geistigen Behinderung ist ermutigend. Jeder, der als Arzt Umgang mit diesen Patienten und dessen Eltern hat, weiß, welch große Erleichterung es für alle bedeutet, wenn eine eindeutige Diagnose gestellt ist, die in der Regel mit der Feststellung eines praktisch fehlenden Wiederholungsrisiko verbunden ist. Die vorgestellten Untersuchungsverfahren sind zwar gegenwärtig noch ziemlich aufwendig und teuer. Die Fortschritte in der Automatisierung der DNA-Analyse machen es jedoch wahrscheinlich, dass der Eingang dieser Methoden in die Routinediagnostik nicht mehr lange auf sich warten lassen wird."

 

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